Psychotraumatologie

Psychotraumatologie

Die Psychotraumatologie, die Lehre von den seelischen Verletzungen ist in Deutschland eine sehr junge wissenschaftliche und eigenständige Fachrichtung. Die Erkenntnisse aus verschiedenen Disziplinen, wie beispielsweise aus der Neurobiologie, der Neurophysiologie, der Psychopathologie und der Psychologie werden in ihr verknüpft. Sie dienen der Praxis der Medizin, der Sozialarbeit, der Psychologie, der Justiz und der Pädagogik.

Die Menschheit wurde seit ihrem Bestehen mit belastenden Ereignissen konfrontiert. Schon früh finden sich detaillierte Beschreibungen von Reaktionen infolge von Kriegstraumata beispielsweise in „Illias“, verfasst von Homer im 8.Jh. vor Chr.

Belastendes Erlebnis

Der Weg, ein belastendes Erlebnis als Auslöser für psychische und physische Störungen auch in der Gesellschaft anzuerkennen, dauerte jedoch lang. Die Frage war, ob das Ereignis selbst Auslöser der Störungen ist oder aber andere Faktoren verantwortlich waren. Zwei Personengruppen führten immer wieder zu Untersuchungen von „Traumafolgestörungen“, zum einen die Kriegsheimkehrer und Opfer von sexuellem Missbrauch.

Pierre Janet

Pierre Janet blieb bei der Annahme, dass traumatische Ereignisse die Auslöser sind. Viele seiner Arbeiten, die lange in Vergessenheit gerieten, zählen heute zu den Grundlagen in der Psychotraumatologie. So entdeckte er den Zusammenhang zwischen der Unfähigkeit, von traumatischen Erfahrungen zu berichten und dem Wiedererleben der Situation in Form von Bildern und Reaktionen.

Dissoziation (Abspaltung)

Als Erklärung führte er den Begriff der Dissoziation (Abspaltung) ein. Er beschreibt, dass der Verstand als Schutzmaßnahme die Erinnerungen abspaltet, dissoziiert.

Kriege und Unglücksfälle führten zu den gleichen Symptomen. Erst nach dem Vietnamkrieg führte das Engagement der Kriegsveteranen im Jahr 1980 zu der Aufnahme des “posttraumatischen Syndroms“ in das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders III (DSM III).

International Classification of Diseases der WHO

Damit wurde endgültig anerkannt, dass belastende Ereignisse zu kurzfristigen und langfristigen Schäden führen können. Seitdem wurden Diagnosekriterien überarbeitet und finden sich heute sowohl im amerikanischen DSM IV als auch im ICD 11 (International Classification of Diseases der WHO, welche in Deutschland für die Klassifikation von Erkrankungen gültig ist).

Erst 11 Jahre nach der Einführung der Diagnose der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) wurde in Deutschland der erste Artikel zu diesem Krankheitsbild von Dressing und Berger 1991 veröffentlicht.

Posttraumatischen Belastungsstörung

Seit Einführung des Symptomkomplexes fand eine enorme Weiterentwicklung statt. Das betraf beispielsweise die Erkenntnis, dass auch nach lebensbedrohlichen Erkrankungen, Symptome der Posttraumatischen Belastungsstörung auftreten. Bestimmte Berufsgruppen, wie Feuerwehrleute, Polizisten, Journalisten und Sanitäter wurden als potentiell gefährdet entdeckt, eine Posttraumatische Belastungsstörung zu entwickeln.

Neurobiologie

Forschungen aus der Neurobiologie zeigen die fehlgesteuerten Abläufe des Gehirns sowie der hormonellen Stressreaktion. In der psychosomatischen und der psychiatrischen Medizin wurden bei vielen Erkrankungen Traumata in der Vorgeschichte der Patienten entdeckt

Körperebene

Van der Kolk (1999), einer der Pioniere der Traumaforschung, schreibt zur Körperebene:„Eines der großen Geheimnisse bei der Verarbeitung traumatischer Erfahrungen besteht darin, dass so lange, wie das Trauma als sprach-loser Stressor erfahren wird, der Körper fortfährt, die Erfahrungen festzuhalten und auf konditionierte Stimuli zu reagieren als kehre das Trauma wieder“.

Traumafolgestörungen (Traumafolgespuren)

Bei Traumafolgestörungen stehen im Kern Erlebniskomplexe mit überstarken negativen Emotionen im Raum, die nur notdürftig gleichsam eingekapselt sind, ohne sich je auflösen zu können. Dieses Einkapseln erfordert permanenten Energieaufwand.

Hyperarousal

Die Patienten gehen allen Triggern aus dem Weg, die an die negativen Emotionen rühren könnten, sie stehen unter permanenter Erregungsspannung (Hyperarousal), gleichwohl dringt dieses negative emotionale Material ständig in die Gegenwart ein, es kommt zu Nachhallerinnerungen, Albträumen, Affektdurchbrüchen, Panikattacken.

Das unbewältigte emotionale Material bemächtigt sich auch des Körpers. Zu beobachten sind schwere chronische Schmerzzustände, chronische Kopfschmerzen und häufig Tinnitus. Die Trauma-Fragmente bleiben auf der Ebene des Arbeits-Gedächtnisses gespeichert und haben ohne eine gelungene Traumasynthese kaum eine Chance in das Langzeit-Gedächtnis integriert und damit verarbeitet zu werden.

Körperschema

Traumatische Erlebnisse werden als neuromuskuläre Erinnerungsspur (Bauer, 2002) in unser Körperschema eingebettet – psychische Traumata zeigen sich sehr häufig als eingefrorene neuromuskuläre Aktivationsmuster, die nicht direkt zugänglich sind. Diese Aktivationsmuster entsprechen dem, was Fischer (2000a) mit „Traumaschema“ beschrieben hat, neurobiologisch gesehen sind sie dem „Trauma-Fahrstuhlschacht“ vergleichbar (Hüther, G. et al. 2010). Um die traumatische Erfahrung unter Kontrolle zu halten, entwickelt der Organismus ein System von Gegenmaßnahmen, das sog. Traumakompensatorische Schema:

Auf der körperlichen, neuromuskulären Ebene geschieht dies in Form von Fixierungen und Schonhaltungen. Das gesamte Muskelsystem wird dabei als Zusammenspiel von Kraftvektoren verstanden, die uns körperlich stabil in der Welt unterwegs sein lassen – oder eben auch nicht.

Muskel induzierte Symmetriestörungen und traumabedingte chronische Fehl- und Überlastungen können zu einer Vielzahl von Symptomen führen, z.B. Schonhaltungen, Schmerzzuständen, vegetativen Dysregulationen und Unruhezuständen.

Seelische Verletzungen

Seelische Verletzungen und Traumata im Sinne unterbrochener, eingefrorener Handlungen beantwortet die Muskulatur ebenfalls mit Hypertonus („fight“ / „flight“) oder Erstarrung („freeze“).