Eine Buch-Rezension von Ruth Meinke zu „Das große Buch der Gefühle“

Eine Buch-Rezension von Ruth Meinke zu „Das große Buch der Gefühle“

Eine Buch-Rezension von Ruth Meinke zu „Das große Buch der Gefühle“

Buchtitel_Buch_der_GefuehleDas Autorenpaar Udo Baer und Gabriele Frick-Baer nimmt Sie mit auf eine Entdeckungsreise der Gefühle und Stimmungen. Erfahren Sie wie Gefühle wirken, welche Geschichte und Entwicklung sie haben, wie sie von Nutzen sein können und welche Veränderungen sie hervorrufen können.

Die gut verständlichen Beschreibungen der Gefühlslandschaften und Ihrer Wirkung helfen ein Bewusstsein für die Autonomie eigener Gefühle sowie Gefühle anderer zu entwickeln und diese praktische Erkenntnis  als Denkanstoß für Veränderung im eigenen Leben oder als Hilfestellung für Berater/Therapeuten im Umgang mit Klienten/Patienten zu nutzen.

Leseprobe_Buch_der_Gefuehle

 

Buchbesprechung
von Ruth Meinke, Kiel

Udo Baer, Gabriele Frick-Baer „Das grosse Buch der Gefühle“ Beltz 2014, 360 Seiten, 22.95Euro

„Das grosse Buch der Gefühle“ des Autorenpaares Baer hat 360 Seiten und wiegt 650 g. Es ist tatsächlich ein Buch mit viel Inhalt. Beide Autoren sind Pädagogen und arbeiten mit kreativer Leibtherapie.

Gefühle und Stimmungen in 23 Kapiteln

Die Autoren beschreiben in 23 Kapiteln Gefühle und Stimmungen: Sehnsucht als ein Gefühl, das Veränderung bewirkt und ins Handeln bringt; Scham als ein Interaktionsgefühl und Wächter über die Intimität; Schuldgefühle, insbesondere gesehen als schuldlos schuldig durch Vergangenheit; Angst in seinen verschiedenen Färbungen Hilflosigkeit, Dauererregung, Bissigkeit und Verstummen; Einsamkeit, die sie in fünf „Schichten“ der Einsamkeit unterteilen; Geborgenheit als ein soziales unbestimmtes Gefühl; Liebe als Geschenk; Mitgefühl aus Empathie; Würde als Selbstwert- und Resonanzgefühl; Verantwortungsgefühl, das sowohl Last als auch Fürsorge beinhaltet; Trauer als vielschichtiges Gefühl für das Loslassen und Freiwerden; Treue/Verrat/Verbundenheit als Changierungen einer Richtung bezogen auf sich selbst und andere; Freude mit der Unterscheidung zum Glück und dem Gegenstück des Leids; Neugier/Interesse/Leidenschaft als verbindende Resonanzgefühle; Sich-selbst-Fremdsein und In-sich-wohnen; Neid, der aus Vergleich und Bewunderung unter Umständen Veränderung bewirkt, sowie Eifersucht, die den eigenen Wert in Frage stellt; ein umfangreiches Kapitel widmen sie den aggressiven Gefühlen: Ärger und Wut als reine Gefühle mit dem Wunsch nach Veränderung, Zorn und Jähzorn, Trotz und Hass als gerichtete und blockierende, also nicht auf Veränderung zielende Gefühle. Und, die aggressiven Gefühle überdeckend: Sarkasmus/Ironie/Zynismus.

Sinn und Landschaft der Gefühle

Für jedes Gefühl wird zunächst „Sinn und Landschaft“ erkundet. Was ist gesundes Fühlen? Welchen Nutzen hat das Gefühl für den Menschen? Welche weiteren Gefühle kommen eventuell zum Vorschein oder liegen unter gezeigten Gefühlen? So führen einige Gefühle dahin, eine Situation oder sich selbst zu verändern: Sehnsucht, Wut, Ärger, Neid. Die Autoren unterteilen die Einsamkeit in fünf „Kernbereiche“: Die Kontakteinsamkeit, die Freundschaftseinsamkeit, die Intimitätseinsamkeit, die Herzenseinsamkeit sowie die Bindungseinsamkeit. Die Kontakteinsamkeit, als die „äusserste Schicht“ der fünf führt in Sehnsucht nach anderen Menschen und damit in Veränderung – oder Resignation. Die „tiefsten“ Einsamkeiten sind die Herzens- und die Bindungseinsamkeit.

Verirrungen und Verwirrungen der Gefühle

Für jedes Gefühl explorieren die Autoren Verirrungen und Verwirrungen. Häufigste „Endstation“ der Verirrung ist dabei die Resignation: aus unerfüllter Neugier/Interesse/Leidenschaft, aus nicht erfüllter Sehnsucht, aus unbeantworteter Liebe. Die transgenerationale Weitergabe von Schuld, Scham, Trauer und Verantwortung wird erkundet; eigene und fremde Ab- und Aufwertungen bei Würde, Eifersucht, Neid; auch die Vermischung von Gefühlen, wie Angst in der Trauer und der Liebe wird betrachtet. Versteifung und Grandiosität von Liebe, Treue/Verrat/Verbundenheit führen unter Umständen in Ideologien oder basieren bereits auf ideologischen – auch sozial gesteuerten – Vorstellungen. Inszenierungen, durchaus sozial akzeptiert und gewünscht, verzerren Freude und Mitgefühl und können in die Verirrung dieser Gefühle führen.

Rat und Hilfe

Den Abschluss jeden Gefühls(kapitels) stellt „Rat und Hilfe“, was sowohl den Umgang als Berater/Therapeut mit den Gefühlen und Gefühlsirrungen des Klienten/Patienten, als auch für den Leser den Umgang mit den eigenen Gefühlen und ihren Irrungen betrifft. Die häufigsten Themen sind dabei: Mut und Ermutigung, beim Umgang mit Verrat/Treue/Verbundenheit, beim Schritt aus der Einsamkeit, zur Liebe hin, beim Zumuten der Trauer. Wertschätzung des Ausdrucks und der Richtung von Ärger, Trotz, Treue/Verbundenheit, Wertschätzung der eigenen und fremden Würde, Wertschätzung der eigenen Person gegen Eifersucht und Neid. Und, im Sinne von Autonomie der Gefühle: herausfinden, was man mag und will: Im Umgang mit Neid und Eifersucht, im Jähzorn, in der Einsamkeit, aus der Sehnsucht, zur Freude. Ein schönes Zitat zur Freude fand ich bezogen auf die Autonomie der Gefühle: „Gefühle von Glück und Freude gedeihen nur in einer Umgebung, in der ALLE Gefühle lebendig sein dürfen.“

Die Grammatik der Gefühle

Das Buch schliesst mit dem Kapitel „Grammatik der Gefühle“ Die Autoren stellen darin „grammatikalische“ Regeln auf, denen Gefühle folgen: Gefühle sind masslos; Gefühle brauchen keinen Grund, allenfalls Anlass; Gefühle haben mehrdimensionale Wirkung (so auf Verhalten, Selbstbild, Kommunikation, Interaktion); Gefühle verschwinden aus der Wahrnehmung – und bleiben doch; Gefühle lassen sich austauschen. Diese beiden letzten Regeln gehören zusammen, in ihnen beschreiben die Autoren aus transaktionsanalytischer Sicht Ersatzgefühle. Gefühlen wohnt das „und“ inne (erst durch Werte und Massstäbe entsteht das „entweder-oder“ der Gefühle und daraus unter Umstände die Verwirrung); Gefühle sind paradox. Letztere Regel gehört für die Autoren zusammen mit dem „und“ zu den Grundsäulen für das Verständnis von Gefühlen bei Traumapatienten. Gefühle bilden Ketten und Landschaften – keine Schubladen – sie mäandern, kommen, vergehen; Gefühle haben Subtexte: Schattengefühle; Gefühle schwimmen wir Fettaugen auf der Suppe. Kocht die Suppe über muss man erst durch diese Fettaugen durch, um an die darunterliegenden Gefühle heranzukommen. Ein sehr eindrucksvolles Bild therapeutischer Arbeit, wie ich finde. In beiden letztgenannten Kapiteln beschreiben die Autoren Ersatzgefühle und verdeckte Transaktionen. Gefühle können delegiert werden, was besonders für Scham, Schuld, Angst und Hass gilt. Es gibt existentielle und alltägliche Gefühle, wobei sie sich auch ineinander verstecken können.

Von einem der auszog, das Fürchten zu lernen

Zum Abschluss beschreiben die Autoren am Beispiel des Märchens „Von einem der auszog, das Fürchten zu lernen“ sehr schön, was es macht, gefühllos zu sein, seine Gefühle nicht (mehr) zu spüren, seine Grenzen nicht zu spüren und immer stärkere kicks zu benötigen um überhaupt noch etwas zu fühlen.

Gefühlslandschaften und genaue Sprache machen das Buch aus

Was mir so besonders an diesem Buch gefällt, ist zum einen die Darstellung der Koexistenz der Gefühle in den Gefühlslandschaften. Zum anderen ist es die benutzte Sprache der beiden, die zum einen einfach und verständlich ist, wie es auch Berne postulierte, als auch sehr genau, so dass die Nuancierung der Gefühle möglich ist. Dies kommt für mich besonders im Kapitel „Freude“ zum Ausdruck. So schreiben die Autoren „Das Glück hat eine doppelte Bedeutung: Man kann Glück haben, oder glücklich sein. Das Gegenteil des Glücks ist das Pech. Glück und Pech sind Erfahrungen, die einem Menschen wiederfahren, ihn ereilen. (…) Das Gegenteil des Glücksgefühls ist nicht das Pech, sondern das Leid.“ Und weiter: „Glücklichsein existiert aus einer Grundgestimmtheit (…): „Ich bin ein glücklicher Mensch“ Nachsatz: „Auch mit all den leidvollen Erfahrungen, die ich machen musste und immer wieder machen muss.“ Und weiter: „Freundlichkeit ist eine in sich begründete Haltung zur Welt und sich selbst (…) Freundlichkeit gebiert Freude und ist oft der Boden für freudiges Gestimmtsein.“
Insgesamt ein sehr umfassendes Buch über Gefühle, Gefühlsregungen, Gefühlsfärbungen, ihre Verwirrungen sowie den Umgang damit. Von den Autoren ist das Buch in einer sehr wertschätzenden, persönlichen Weise geschrieben, die immer wieder ermutigt, und dabei abgrenzt zur Therapie. Empfehlenswert für jeden, der sich mit Gefühlen, Ersatzgefühlen und den Nuancen beschäftigen möchte, ein inspirierender Denk- und Diskussionsanstoss für die Frage „Wie viele Grundgefühle gibt es – und was ist mit den anderen?“

ruth_meinke_martinfrick-0381Ruth Meinke
Kiel
Freiberufliche transaktionsanalytische Beraterin und Biologin

Permalink

Recent Posts